Normalität kehrt ein – Das Schiff ist weiblich – die Kolumne! Folge 5

Normalität kehrt ein

Foto: Normalität zieht ein – Quelle: Canva

Weihnachten und Silvester sind vorbei. Der Tannenbaum im Atrium ist abgeschmückt, die Dominosteine sind aufgegessen. Die letzten Gäste der Weihnachts- und Silvesterreise steigen heute aus. Ich atme erleichtert auf, die Anspannung fällt von mir ab und ich lehne mich für einen Augenblick zurück. Normalität scheint einzukehren.

Meine persönliche Leidenschaft ist nicht nur die Seefahrt, sondern auch als weibliche Führungskraft Menschen zu unterstützen und das Bestmögliche aus ihnen herauszuholen. An Bord eines Schiffes zusammen arbeiten und leben, ist eine besondere Herausforderung. Man ist mit der Crew vier bis sechs Monate zusammen und erschafft in kurzer Zeit eine gemeinsame Basis. Gegenseitiges Vertrauen wird aufgebaut und es wird auf gemeinsame Ziele hingearbeitet. Eine Erfahrung bestärkt mich noch heute, als Führungskraft eine gute Selbsteinschätzung zu besitzen und in Mitarbeitern mehr zu sehen, als nur Arbeitskräfte. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine spezielle Geschichte.

Zurück an Bord

Es ist September. Alle meine Koffer sind für eine weitere Saison an Bord des Kreuzfahrtschiffes gepackt. Wie bei allen früheren Fahrten, bin ich ich voller Aufregung und Vorfreude. Welche herausfordernden Aufgaben werden mir begegnen? Welche schönen Momente werde ich erleben? Am Flughafen gelandet und mit dem Transfer am Schiff angelangt, kann ich es kaum erwarten, mein zweites Zuhause in seiner vollen Pracht wiederzusehen.

Frisch erholt und voller Energie bin ich bereit, in eine neue Saison zu starten. Üblicherweise erfolgt am Tag des Aufstieges eine Übergabe aller wichtigen Informationen, so dass nur eine kurze Zeit zur Verfügung steht, die Abläufe kennenzulernen, Potenziale einzuschätzen und das tägliche Geschäft reibungslos am Laufen zu halten. Ich übernehme meine Crew, verabschiede meinen Vorgänger und dann heißt es ab ins kalte Wasser. Zuvor bekomme ich noch ein Briefing über jeden einzelnen Mitarbeiter: Eine kurze, knackige Vorstellung über die Stärken und Schwächen und alles, was zu beachten ist. Hierbei fällt mir besonders ein Mitarbeiter auf.

Normalität? Wenn er so bleibt, schmeiß ihn raus!

Er wird mir wörtlich mit folgenden Sätzen übergeben:

„Schau ihn dir noch eine Weile an. Er ist sehr schüchtern, redet nicht viel, findet in der Gruppe keinen wirklichen Anschluss und ist nur schwer einsetzbar. Wenn er so bleibt, schmeiß ihn raus.“

Harte Worte, das ist richtig, aber man darf nicht vergessen , dass es sich um ein Kreuzfahrtschiff mit ca. zweitausend Passagieren handelt, eine enorme Verantwortung auf uns als Führungskraft lastet und schnelle Entscheidungen an der Tagesordnung sind. Jeder Gast hat eine hohe Erwartungshaltung im Gepäck, welche es zu erfüllen oder zu übertreffen gilt.

Ich beobachte, unterstütze und lasse ihn laufen. Es gibt Mitarbeiter, die mehr Unterstützung benötigen und Zeit brauchen, um sich zu entfalten. Ich sehe Potenzial in diesem Mitarbeiter. Ein Rausschmiss kommt mir daher nicht in den Sinn. Schritt für Schritt arbeiten wir Strategien aus, die ihm helfen zu wachsen, sich zu entwickeln und dennoch den hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Ja, es ist ein langer und teils auch schwieriger Weg, den ich aber gern gehe. Was aus ihm geworden ist und was er heute beruflich macht? Dazu später mehr.

Normalität? Die Aufgabe einer Führungskraft

Menschen einschätzen, Mitarbeiter fordern und fördern, Hilfestellung geben, wo sie benötigt wird, Selbstbewusstsein stärken und Vertrauen schenken sehe ich als die Aufgabe einer Führungskraft. Wie soll ein Mitarbeiter Vertrauen in sich selbst entwickeln, wenn keiner an ihn glaubt? Viele Führungskräfte betrachten nach ihrer eigenen Einschätzung ihre Mitarbeiter als reine Arbeitskraft. Ich lernte Unternehmen kennen, wo die Mitarbeiter täglich voller neuer Ideen sprudeln sollten, Überstunden an der Tagesordnung waren und sie möglichst noch im Urlaub abrufbereit sein müssen. Kranksein war kein Hinderungsgrund, um zu arbeiten. Fiel ein Kollege oder eine Kollegin dennoch einmal aus, wurde die Arbeit noch auf die Schultern der Anderen verteilt. Ziehen wir doch einen Vergleich mit einem Fass voller Wasser. Solange es halb gefüllt ist, ist der Mitarbeiter leistungsstark und motiviert. Kommt allerdings immer mehr und mehr Wasser hinein, läuft es irgendwann über.

Jeder Mitarbeiter ist eine eigene Persönlichkeit mit eigenen Ideen und jeder bringt Komponenten mit, die zusammen eine beeindruckende Vielfalt an Möglichkeiten ergeben. In meiner Zeit als Shore Excursion Managerin an Bord waren Strukturen, Vorgaben und Qualitätssicherung die Basis für einen reibungslosen Ablauf. Dennoch hatte jeder Mitarbeiter die Chance, sich zu entfalten und zu entwickeln. Hier gab es keine starren und unbeweglichen Routinen. Jedem Mitarbeiter wurde abverlangt, flexibel auf Situationen reagieren zu können. Besinnen auf das, was wichtig ist, um bei Entscheidungen, auch wenn sie noch so klein sind, richtig zu reagieren und zu agieren. Hierbei standen Empathie, der Glaube an das eigene Ich, eine gesunde Selbsteinschätzung sowie Stressresistenz an erster Stelle. Für mich war es immer wichtig, auch hinter die Fassaden der Menschen zu schauen. WARUM handeln sie so, wie sie es tun? Wie treffen sie Entscheidungen?

Die Arbeit auf einem Kreuzfahrtschiff ist kein Nine-to-Five-Job!

Ein entscheidender Vorteil bei weiblichen Führungskräften ist die Fähigkeit der Kommunikation. Erst wenn man seinen Mitarbeitern Tatsachen, Probleme und Aufgaben erklärt, lernen sie daraus und entwickeln eigene Lösungsansätze. Frauen als Führungspersönlichkeiten sind oft so wertvoll, weil sie nicht nur gelernt haben, lösungsorientiert zu agieren, sondern auch durch äußere Einschätzung immer ein bisschen mehr geben, den Überblick behalten und fokussiert bleiben müssen. Um zu meiner Geschichte zurückzukommen. Was hätte es dem Mitarbeiter für seine Zukunft genützt, wenn ich ihn aufgegeben hätte? Wie hätte er sich gefühlt, wenn er abgestiegen wäre und sich hätte neu orientieren müssen, mit dem Gefühl, nicht gut genug zu sein? Was hätte er aus dem gelernt, was er erlebt hat?

Zugegeben, es gibt auch Mitarbeiter, die selbst die Entscheidung treffen, den Vertrag zu beenden, weil sie erkannt haben, dass das nicht ihr Weg ist. Das finde ich auch völlig legitim. Aber sobald ein Mitarbeiter signalisiert, er ist motiviert, er möchte lernen und gemeinsam wachsen – ist es hier nicht meine Aufgabe als Führungskraft, an ihn zu glauben und einen Weg zu finden, der uns gemeinsam zum Ziel führt? Es ist ein schönes Ergebnis, wenn man die Früchte sieht, die nach einigen Jahren gewachsen sind, wenn man Arbeit, Vertrauen und jede Menge Geduld in einen Mitarbeiter gesteckt hat.

Ich möchte noch erwähnen, dass Mitarbeitern, die auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten, sehr viel abverlangt wird. Aber genau deswegen ist es für eine Führungskraft wichtig, sich mit dem Menschen zu beschäftigen. Man kann nur als Team erfolgreich agieren, ist aufeinander angewiesen, übernimmt auch die Rolle einer wichtigen Bezugsperson. Genau aus diesem Grund wird an Bord sehr viel dafür getan, dass der Mitarbeiter seine Gesundheit, seine Leistungsfähigkeit, seine Motivation und seinen Spaß behält. Hier gibt es keinen Nine-to-Five-Job, sondern jeder, der an Bord arbeitet, lebt und liebt diese Arbeit. Die Arbeit wird zur Erfüllung und jeder Einzelne sammelt tagtäglich Momente voller Glück, Zufriedenheit, Spaß sowie lehrreiche Erfahrungen.

Normalität? Die Früchte der gemeinsamen Arbeit ernten

Aber nun zu meiner Auflösung: Heute ist der anfangs erwähnte Mitarbeiter erfolgreich in dem, was ihm damals am schwersten fiel: Frei und authentisch mit Menschen umzugehen, Speaker zu sein, Menschen an dem Punkt abzuholen, wo sie sich befinden und mit ihnen Probleme zu lösen. Ich bin stolz, mir die Zeit genommen zu haben, meine Arbeit und die Hoffnung in diesen Mitarbeiter gesteckt zu haben. Ihm das Vertrauen geschenkt zu haben, dass mehr in ihm steckt, als die Anderen glaubten. Vertrauen schenken kann so viel bewirken. Zusammen einen Weg zu finden, Mitarbeiter zu loben, auch wenn die Entwicklungsschritte noch so klein sind, kann Berge versetzen. Die Voraussetzung ist , dass die Motivation gegeben, Neugier vorhanden ist. Auch die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln und zu wachsen.

Das war der Grund, warum ich als weibliche Führungskraft an ihn und seinen Willen glaubte. Das Schiff ist weiblich – so ist der Titel meines Buches. In Bezug auf meine Geschichte denke ich, dass Frauen in Führungspositionen nicht nur einen Vorteil haben, weil sie durch eine gute Einschätzung empathisch reagieren können, sondern oftmals schneller hinter die Fassade eines Menschen schauen können und den besonderen Blick dafür haben. Ich empfehle jeder Frau, auch wenn es noch bei einigen Reedereien eine überwiegende Männerdomäne an Bord gibt, diesen Entwicklungsschritt zu wagen, denn er ist sehr wertvoll. Die Erfahrung, die man als weibliche Führungskraft an Bord sammeln kann ist eine ganz besondere.

Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass es eine weibliche Führungskraft auf einem Schiff leichter hat als an Land. Nicht weil die Akzeptanz größer oder kleiner ist, sondern weil es hier um das Wesentliche geht. Die Abläufe müssen funktionieren, ein Zahnrad muss ins andere fließend hineingreifen, die Mitarbeiter müssen Höchstleistung bringen und die Umsätze sollten ansteigend sein.

Und, der Mitarbeiter darf nach seinem Vertrag soviel Energie mitnehmen, dass er mit Freude wieder aufsteigen möchte. Das ist die Kür der Führung.

Viva la vida der Normalität!

Eure Seefrau Sandra

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